aktiv!magazin Herbst / Winter 2014 - page 27

Als sich die Nachrichten über S inzwischen längst verjährte S Missbrauchsfälle am Vorzeige Internat der liberalen Pädagogik, der
berühmten Odenwaldschule,
zwischen den 1 960er- und 1 990er-Jahren häuften,
waren wir schockiert und erschüttert.
Erschütternd waren auch die zu Tage kommenden Spätfolgen bei den Betroffenen und beeindruckend der Mut, nach so vielen
Jahren über die schrecklichen Taten öffentlich zu berichten. Gründe genug, einen Fernsehfilm zu diesem Thema zu produzieren.
Der Film »Die Auserwählten« konnte am Originalschauplatz,
an der Odenwaldschule,
entstehen.
Die Hügelketten und
Häuserzeilen in der idyllischen und friedlichen Landschaft im hessischen Oberhambachtal, die so sehr vom Symbol freiheitlicher
Erziehung und der Einheit von Leben und Lernen zum Sinnbild der brutalen Übergriffe mutiert sind, wurden so Teil einer
filmischen Dramaturgie, die auf diesen Ort zurückgreift und ihn als vieldeutigen Code in ihre Geschichte integriert. Doch der
Film will mehr als nur die Ereignisse an dieser einen Schule nachzuzeichnen. Vielmehr entstand er aus der Absicht, die
Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit aufzuzeigen, mit der die jungen Opfer und ihr Umfeld auf sexuelle Übergriffe reagieren und wie
viel Verdrängung und Verschleierung im Inneren eines solchen Systems die Täter schützt. Eine solche Aufarbeitung S das haben
gerade die Erfahrungen mit der schmerzhaften und schwierigen Aufklärung des Odenwald-Falles gezeigt S gelingt häufig erst
mit innerem Abstand und historischer Distanz. In diesem Sinne ist »Die Auserwählten« auch ein Sittenbild der Umbruchszeit
der 60er-Jahre und der nachfolgenden 30 Jahre aus heutiger Perspektive, einer Zeit auch der »sexuellen Befreiung«, in der
mancher als prüde und verklemmt abgestempelt wurde, der auf die Grenzen der Privatsphäre und der Scham hinwies. Mit
großer Perfidie wussten die pädophilen Täter diese gesellschaftliche Umwälzung für sich auszunutzen! Die heutige
Odenwaldschule unterstützte unsere Produktion. Unser Dank gilt vor allem den Betroffenen, die es schließlich schafften, das
Schweigen zu brechen und die mit ihren mutigen Berichten diesen Film erst ermöglicht haben. Ihre Schilderungen sind der
Erfahrungsschatz, den die Autoren Sylvia Leuker und Benedikt Röskau zu einer Geschichte verdichtet haben, in der es nicht
vorrangig darum geht,
historische Ereignisse detailgetreu nachzuerzählen,
sondern vielmehr darum,
dem Lebensgefühl
ausgewählter Protagonisten nachzuspüren. Dieses Gefühl und die vielen Zwischentöne hat Christoph Röhl in seiner Regie
äußerst emotional zum Leben erweckt. Und dies wäre nicht gelungen ohne das überaus intensive und präzise Spiel der drei
Hauptdarsteller Ulrich Tukur, Julia Jentsch und Leon Seidel.
Dr. Barbara Buhl
Leiterin der Programmgruppe
WDR-Fernsehfilm und Kino
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